Auch im April spiegelten die Aktienmärkte die wachsenden Sorgen und Ängste der Anleger wider. Tatsächlich gibt es auch einige Gründe, die weitere wirtschaftliche Entwicklung etwas pessimistischer einzuschätzen als  zu Jahresbeginn.

  • In Europa beeinflusst der Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, das Börsengeschehen. Eigentlich ist es weniger der Krieg an sich, der die Investoren in ihrer Eigenschaft als „Anleger“ besorgt, sondern die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Europa, vor allem Deutschland, ist besorgt wegen seiner Abhängigkeit von Russland beim Bezug von Kohle, Öl und vor allem Gas. Ein Ausfall könnte – je nach Quelle des Gutachtens, aus dem zitiert wird – zu einem leichten Rückgang des BIP bis zu einer tiefen Rezession mit Millionen von Arbeitslosen führen.
  • In China sind mittlerweile 46 Städte von den für China typischen radikalen Lockdowns betroffen. Vor allem in Shanghai, dem wirtschaftlichen Kraftzentrum Chinas, stehen (fast) alle Räder still. Dies führt zu massiven Produktionsausfällen und vor dem Hafen von Shanghai zu hunderten von festliegenden Containerschiffen. PioneerMedia berichtet, dass Waren im Wert von über 650 Milliarden USD davon betroffen sind. Dies führt zu Produktionsausfällen überall auf der Welt, wo die auf diesen Schiffen und im Hafen festsitzenden Teile benötigt werden, um z.B. Autos, Maschinen, Computeranlagen und vieles mehr fertigzustellen. (Mehr dazu hier und hier)
  • In den USA liegt die aktuelle Inflationsrate mittlerweile bei über 8 %. Die Investoren rechnen damit, dass die Fed die Zinsen in raschen Schritten erhöhen wird. Zinserhöhungen verteuern die Finanzierung von Investitionen und auch privaten Anschaffungen. Dies bremst die Investitions- und Kaufbereitschaft und führt somit zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung. Weiterhin hat die Fed bereits begonnen, ihre bisher expansive Geldpolitik umzukehren und damit dem Markt Liquidität zu entziehen. Auch dies bremst die Wirtschaftsleistung.

In den Aktienmärkten sinken die Bewertungen. In Deutschland und dem weiteren Europa sind die Rückgänge deutlich. Jedoch besteht die Welt nicht nur aus Europa. Der folgende Chart zeigt deswegen zum Vergleich auch die Entwicklung des MSCI World (Index für 1.550 Aktienpositionen in 23 Industriestaaten mit einem Schwerpunkt USA). Tatsächlich ging der „Weltindex“ seit Jahresbeginn nur um 6 % zurück (Bewertung in Euro), was in der üblichen Schwankungsbreite eines breit gestreuten Aktieninvestments liegt.

Chart: Europäische Aktienmärkte von Jahresbeginn bis zum 28.04.2022, mit dem Weltaktienindex zum Vergleich. Alle Positionen mit einem ETF von iShares mit der Wertentwicklung in Euro dargestellt.

  • Braun: MSCI World
  • blau: Dax
  • rot: MDax
  • grün: EURO STOXX
  • schwarz: Europe Midcaps 200
  • grau: Europe Smallcaps 200

Quelle: infront

Wertschwankungen wie derzeit hatten wir die letzten zehn Jahre schon häufiger erlebt. Das folgende Schaubild zeigt die gleichen ETFs, jetzt für den Zeitraum der letzten zehn Jahre. Beachten Sie die Wertrückgänge in 2015, in 2018 und in 2020. Der jüngste Rückgang unterscheidet sich allerdings von seinen Vorläufern: die europäischen Indizes gingen seit Jahresbeginn deutlich stärker zurück als der Weltindex. Immerhin: aus ursprünglich 100.000 Euro wurden innerhalb von 10 Jahren über 200.000 Euro im DAX und über 330.000 Euro im Weltindex. (Bewertung in Euro)

 

Quelle: infront

Schauen wir uns die Gründe für die aktuellen Sorgen etwas näher an.

Sorgenkind „Inflation“: aktuell sehr hoch, wird jedoch wieder zurückgehen

Wenn wir uns nur mit dem täglichen Ergebnis der Headline-Industrie befassen, könnten wir zum Ergebnis kommen, dass wir uns in zwei Jahren nur noch Brot und Wasser leisten können. Die plakativen Überschriften, die täglich um unsere Aufmerksamkeit kämpfen, zeichnen jedoch nur das aktuelle Bild. Sie sagen uns, um wie viel die Lebenshaltungskosten in diesem Monat höher sind als im Vergleichsmonat ein Jahr zuvor. Dabei sind zu unterscheiden:

  • Die Gesamt-Inflation:
    Sie umfasst alle Positionen einschließlich Nahrungmittel und Energie
  • Die Kern-Inflation:
    Hier bleibt die Preisentwicklung von Nahrungsmitteln und Energie außen vor.

Außerdem sollten wir die Bedeutung der Begriffe „Teuerung“ und „Inflation“ unterscheiden.

Unter „Teuerung“ verstehen wir die Tatsache, dass ein bestimmtes Produkt heute teurer ist als zu einem früheren Zeitpunkt, ohne dass sich daraus ein fortlaufender Preisauftrieb ergibt.

Inflation entsteht, wenn sich eine Wechselwirkung zwischen höheren Preisen und höherem Einkommen entwickelt. In den USA ist diese Gefahr größer als in Deutschland, weil der Arbeitsmarkt in den USA mehr Fluktuation zulässt als hierzulande. Arbeitnehmer in den USA können derzeit leicht höhere Entlohnung fordern. Wenn der bisherige Arbeitgeber nicht darauf eingeht, findet der Arbeitnehmer schnell einen anderen, besser bezahlten Job. So setzt sich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang, die zu einem andauernden Preisauftrieb führen kann.

Der größte Anteil unserer aktuellen Diskussion bezieht sich auf Entwicklungen, die eher einer „Teuerung“ zuzurechnen sind. Der akute Mangel an Teilen für die Automobilindustrie führte (als Beispiel) dazu, dass hunderttausende von Neuwagen auf Halde stehen, nur weil einige wenige Teile fehlen. Die Käufer, die immer noch vergeblich auf ihren Neuwagen warten, verkaufen ihr Gebrauchtfahrzeug nicht. Das Angebot an Gebrauchten sinkt. Andere, die dringend ein Fahrzeug brauchen, kaufen, was sie bekommen können – auch zu einem deutlich höheren Preis als vorher üblich. In den USA stiegen die Preise für Gebrauchtwagen – je nach zitierter Statistik – um fast 40 %. Dies betrachte ich als „Teuerung“. Die Gebrauchtwagenpreise werden wieder zurückgehen, sobald die Teile für die Fertigstellung von Neuwagen wieder verfügbar sind. Dies könnte sogar zu einer Neuwagen-Schwemme führen, die dann wieder mit Sonder-Rabatten abgebaut würde.

Betrachten wir nun einmal die Bestandteile der US-Gesamtinflation im Einzelnen:

Quelle: JPM, Guide to the Markets, Stand 31.03.2022

Wesentliche Größen der aktuellen Inflation sind der Preisanstieg von Wohnraum, Autos und Energie. Die Wohnraumkosten stiegen, weil die Immobilienpreise – begünstigt durch die extrem niedrigen Zinsen für eine Finanzierung – stark anstiegen. Die Autopreise zogen an, weil zu wenig Angebot auf den Markt kam. Die Energiepreise kamen aus einem extremen Preistief vom Vorjahr wieder hoch auf ein aus Vor-Corona-Zeiten gewohntes Preisniveau, was in der üblichen Statistik mit dem „Vergleich zum Vorjahr“ auch als Inflation erfasst wird.

Die Expertenmeinung zur US-Inflation 2023

Vom ersten Quartal 2021 bis zum Ende des ersten Quartals 2022 haben sich die Prognosen der Ökonomen bezüglich der erwarteten Inflation von 5 auf knapp 8 Prozent erhöht. Einig sich sich die Ökonomen jedoch weiterhin, dass dieser starke Preisauftrieb bis zum zweiten Quartal 2023 wieder deutlich zurückgehen wird. Das Schaubild zeigt dies in der Übersicht:

Quelle: JPM, Guide to the Markets, Stand 31.03.2022

Das weitere Schaubild zeigt die Bandbreite der Experten-Einschätzungen: Mitte 2023 könnte die US-Inflation wieder zwischen 1 und 3 % liegen. Dies bedeutet nicht, dass die Preise wieder zurückgehen werden. Es bedeutet lediglich, dass ein (weiterer) Anstieg der Preise „im Vergleich zum Vorjahr“ dann nicht mehr bei 8 % (wie aktuell im April/Mai 2022) liegt, sondern nur noch zwischen 1 und 3 %.

Quelle: JPM, Guide to the Markets, Stand 31.03.2022

Der Markt preist durchschnittlich 3,37 % ein

Ein guter Indikator, was die großen Marktteilnehmer tatsächlich erwarten, ist die Fünf-Jahres-Breakeven Inflation Rate. Sie ergibt sich aus der Renditedifferenz zwischen den fünfjährigen US-Staatsanleihen abzüglich der fünfjährigen TIPS (Inflationsgeschützte Anleihen).  Dieser Indikator sagt, dass die großen Investoren (Stand 22.04.2022) für die nächsten fünf Jahre eine durchschnittliche Inflationsrate von 3,37 % erwarten, ausgehend von aktuell 8,6 % im März 2022.

Quelle: Wellenreiter Invest

Euribor bis Juni 2023 auf 1,67 %

Einen Hinweis, wie der Markt die Zinsentwicklung in der Eurozone einschätzt, liefert uns die Kurve für den Euribor 3-Monats-Future. Diese Kurve, die aus dem tatsächlichen Ergebnis des Handels entsteht, weist auf einen Zinsanstieg in der Eurozone bis Juni 2023 auf 1,67 % hin.

Quelle: Wellenreiter Invest

USD seit Jahresbeginn mit 7 % Aufwertung

Die höheren Leitzinsen in den USA im Vergleich zum weiterhin niedrigen Zinsniveau in der Eurozone erklären auch, warum der Weltaktienindex (in Euro ausgedrückt) seit Jahresbeginn nur um 6 % zurückging. Aufgrund der Zinsdifferenz war der USD deutlich mehr gefragt als der Euro. Außerdem haben internationale Anleger vermutlich deutlich Euro verkauft, um die potentiellen Risiken, die in Folge des Krieges in der Ukraine entstehen könnten, für sich zu verringern. Jedenfalls steht der Wechselkurs USD zu Euro per 28.04.2022 um 7 % höher als zu Jahresbeginn. Dies hatte – mit verminderter Wirkung – auch Einfluss auf die Bewertung des Weltaktienindex aus Sicht eines Euro-Anlegers.

Schaubild: Aufwertung des USD gegen Euro seit Jahresbeginn

Quelle: infront

Leitzinsen und Inflation hängen eng zusammen

Zu fast allen Zeiten gab es einen engen Zusammenhang zwischen der Inflationsrate und der Höhe der Leitzinsen. Das folgende Schaubild lenkt die Aufmerksamkeit auf die mögliche Entwicklung der Leitzinsen in den USA. Die Investoren erwarten einen schnellen Zinsanstieg in 2022, sodann jedoch wieder einen Rückgang in den kommenden Jahren. Dies wird auch verständlich mit Blick auf die vorstehend gezeigten Inflationserwartungen.

Schaubild: Das Zinsniveau und die Inflationsrate hängen eng zusammen

Quelle: JPM, Guide to the Markets, Stand 31.03.2022

US-Notenbank vor einer schwierigen Aufgabe

Die Notenbank der USA (Fed) steht vor der extrem schwierigen Aufgabe, jetzt den Preisauftrieb zu bremsen, ohne jedoch die wirtschaftliche Entwicklung zu stark zu bremsen. Lange Zeit hatte sich die Fed geweigert, die Leitzinsen anzuheben, um den Arbeitsmarkt nicht zu beeinträchtigen. Dieses Argument ist zwischenzeitlich entfallen: der Arbeitsmarkt in den USA ist extrem angespannt. Viele Arbeitsstellen können nicht besetzt werden. Umgekehrt finden Arbeitswillige genügend Angebote. Der Prozentsatz der Jobsuchenden liegt deutlich unter dem langfristigen Durchschnitt bei unter 4 %.

Steigende Zinsen und Entzug von Liquidität können den Preisauftrieb bremsen, führen jedoch gleichzeitig auch zu einer Bremsung der Wirtschaft.

Jerome Powell, Chef des US-Notenbanksystems, sagte kürzlich in einer Rede, er möchte die „Inflation eindämmen, ohne eine Rezession auszulösen. Und er fügte hinzu: „Ich glaube nicht, dass Sie irgendjemanden bei der Fed sagen hören werden, dass das unkompliziert oder einfach sein wird. Es wird sehr herausfordernd. Wir werden unser Bestes tun, um das zu erreichen.“

Wie geht es nun weiter?

Die Bewertung der Aktienmärkte in den kommenden Wochen wird im wesentlichen beeinflusst von:

  1. Erhöhung des Zinsniveaus durch die Notenbanken
    Höhere Zinsen führen dazu, dass Aktien weniger nachgefragt werden, vor allem Aktien von Unternehmen, die derzeit noch keine oder nur geringe Gewinne erzielen, aber als Wachstumstitel mit den erwarteten künftigen Gewinnen bewertet werden. Dies führt tendenziell zu fallenden Kursen.
  2. Entwicklung der Gewinne der Unternehmen
    Die Investoren werden sehr genau darauf achten, wie sich die Gewinne der Unternehmen entwickeln.  Die Analysten erwarten auch für 2022 weiter steigende Gewinne bei den meisten Unternehmen, allerdings nicht mehr mit der Steigerungsrate wie in den vergangenen Jahren. Steigende Gewinne führen zu steigenden Aktienkursen.
  3. In Europa die Entwicklung der Energieversorgung
    Aktien von europäischen Unternehmen werden mit Sicherheit stark beeinflusst von der weiteren Entwicklung der Energieversorgung. Hierin steckt eine große Unsicherheit für diesen Markt.

Grundsätzlich kann ich heute die gleichen Hinweise geben wie im Marktausblick des vorigen Monats. Die Stichworte waren:

  • Die Leitzinsen werden angehoben 
  • Das Wirtschaftswachstum wird sich fortsetzen, jedoch mit geringeren Wachstumsraten
  • Die Energieversorgung wird teuer und ist ein zentrales Problem für Europa
  • Die Aktienmärkte werden volatil bleiben
  • Wirtschaft und Aktienkurse werden langsamer wachsen
  • Langfrist-Investoren bleiben weit gestreut investiert

Die Commerzbank veröffentlichte am 28.04.2022 die Prognose, dass Dax, Euro Stoxx 50 und S&P 500 in zwölf Monaten höher stehen werden als aktuell.

Capital Economics (CE), der unabhängige Analysedienst, veröffentlichte per 25.04.2022 die Prognose, dass der S&P 500 bis Ende 2022 auf 4.600 steigen wird und bis Ende 2023 auf 4.800. Den Dax sieht CE bis Ende 2022 bei 16.000 und bis Ende 2023 auf 17.500 – und dies trotz der allseits erwarteten Zinserhöhungen.

In einem Vortrag von Flossbach von Storch, der als Vermögensverwalter auf die Ergebnisse eines hauseigenen umfangreichen Researchteams zurückgreifen kann, erläuterte der Redner, warum er in seinem Flagship-Fonds idR auf Absicherungen verzichtet. Er addressierte das große Problem, mit einer Absicherung stets zwei richtige Entscheidungen treffen zu müssen:

  1. Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine Absicherung (oder einen Ausstieg)?
  2. Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Auflösung der Absicherung (bzw. ein erneutes Investieren)?

Die meisten „Rein-Raus-Rein-Investoren“ kehren, wenn sie einmal ausgestiegen sind, später zu einem höheren Kurs wieder zurück als zum Zeitpunkt des Ausstiegs. Somit wiederhole ich meine Empfehlung:

Langfrist-Investoren bleiben weit gestreut investiert.

 

Walter Feil