Im Mai gingen die Bewertungen der Aktienmärkte weiter zurück. Die Grafik zeigt die Entwicklung des Weltaktienindex mit seinen über 1.500 Positionen aus 23 Industrieländern seit Jahresbeginn 2022. Im Mai (gelb hervorgehoben) erreichten die Bewertungen am 24. Mai einen (vorläufigen?) Tiefpunkt, gefolgt von einem schnellen Anstieg von 5 % innerhalb von nur drei Börsentagen.

Quelle: infront

Der Hauptgrund für diese starken Schwankungen der Aktienmärkte sind die Änderungen der Erwartungen, die die Investoren in Zusammenhang mit der Zinspolitik der Notenbanken, allen voran der Notenbank der USA, haben. Ein höheres Zinsniveau macht Aktien-Investments im Verhältnis zu Anleihen weniger attraktiv – und umgekehrt. Höhere Zinsen bedeuten:

  • Die Zinslast der Unternehmen steigt, was zu höheren Kosten und damit geringeren Gewinnen führt.
  • Die Neigung der Konsumenten, auf Kredit einzukaufen, geht zurück, was zu geringeren Umsätzen führt.
  • Auch die Bereitschaft der Unternehmen, in weitere Produktionsanlagen zu investieren, geht zurück, was zu weniger Ausrüstungs-Investitionen führt.

Reduzieren sich die Aussichten auf weiter steigende Unternehmensgewinne, werden die Aktien-Investoren zurückhaltender. Vor allem sogenannte „Wachstums-Aktien“ von Unternehmen, die eine vielleicht überzeugende Geschäftsidee haben, ihre Umsätze jedoch in den künftigen Jahren erst noch aufbauen müssen, wurden seit der veränderten Erwartung bezüglich der Zinspolitik der Fed verkauft.

Am 24. Mai änderte sich jedoch die Erwartung der Investoren. An diesem Tag wurden die „Fed-Minutes“ veröffentlicht. Dies sind die Protokolle über die Sitzungen des FOMC (US Federal Open Market Commitee). Sie werden jeweils drei Wochen nach den Meetings des FOMC veröffentlicht. Die Investoren erhalten daraus ein besseres Bild, welche Maßnahmen von der Fed in den nächsten Monaten zu erwarten sind. Am 24.5. lasen die Investoren aus diesen „Minutes“ heraus, dass der Zinsanstieg in den USA vermutlich nicht so stark sein wird wie vorher vermutet.

Die schnelle und heftige Reaktion der Aktienmärkte (plus 5 % in nur drei Börsentagen) unterstreicht, welche Bedeutung die Zinspolitik für die kurzfristige Entwicklung der Aktienmärkte hat.

Wie geht es nun weiter?

Auch Anfang Juni werden die Aktienmärkte von den gleichen Entwicklungen beeinflusst wie in den Vormonaten. Die wesentlichen Faktoren sind weiterhin:

  1. Erhöhung des Zinsniveaus durch die Notenbanken
    Die Notenbanken stehen vor einer extrem schwierigen Aufgabe. Sowohl die Fed (Notenbank der USA) als auch die EZB (Notenbank für die Euro-Länder) müssen etwas unternehmen, um die Preissteigerungen zu dämpfen.Die übliche Maßnahme hierzu ist eine Erhöhung der Zinsen. Damit soll die Nachfrage der Konsumenten reduziert werden, was dazu führen soll, das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Eine Erhöhung der Zinsen bremst jedoch das Wirtschaftswachstum. Die Notenbanken müssen somit einen Weg finden, die Preissteigerungen angemessen zu dämpfen, ohne das Wirtschaftswachstum zu sehr abzuwürgen.

    Die gegenwärtige Preissteigerung ist allerdings nicht durch eine überbordende Nachfrage ausgelöst, sondern durch ein zu geringes Angebot. Tausende von Unternehmen produzieren unter ihren Möglichkeiten, weil Teile fehlen. Der Nachschub an Teilen wird nicht durch höhere Zinsen verbessert, sondern durch die Auflösung der Hemmnisse, die (als Beispiel) derzeit den Transport von Millionen Containern aus China behindern. Die neuesten Nachrichten aus China deuten darauf hin, dass der Transportstau sich langsam auflöst. Dies sollte dazu beitragen, den Produktions-Stau abzubauen und damit wieder ein höheres Angebot bereitzustellen.

    Die Preissteigerungen bei Energie werden ebenfalls nicht durch höhere Zinsen reduziert, sondern durch die Erschließung von weiteren Bezugsquellen. Dazu zählt selbstverständlich der forcierte Ausbau von erneuerbaren Energiequellen sowie kurzfristig zusätzliche bzw. neue Vereinbarungen über den Bezug von fossilen Energieträgern.Jeder Fortschritt bei der Lösung dieser Aufgaben reduziert die Notwendigkeit von Zinserhöhungen.

  2. Entwicklung der Unternehmensgewinne
    Die Investoren achten jetzt deutlich mehr als in den vergangenen Boom-Jahren darauf, wie sich die Unternehmensgewinne entwickeln. Sie bevorzugen jetzt vor allem Unternehmen mit stabilen, langfristig erprobten Geschäftsmodellen, die laufend hohe Liquiditäts-Überschüsse produzieren, in ihrem Marktsegment eine führende Position innehaben und in einem Geschäftsfeld mit hohen Markteintrittsbarrieren tätig sind. Solche Unternehmen findet man z.B. in dem Index „Global Select Dividend 100“. In diesem Index sind Unternehmen zusammengefasst, die seit vielen Jahren wachsende Dividenden ausschütten, was nur möglich ist, wenn sie über ein stabiles Geschäftsmodell mit hohen Liquiditätsüberschüssen verfügen.
  3. In Europa die Entwicklung der Energieversorgung
    Europa, vor allem Deutschland, wird in den kommenden Jahren extrem hohe Summen in seine Energieversorgung investieren müssen. Dies wird neue Chancen für Investoren schaffen, sich in einem Wachstumsmarkt zu engagieren. Die Staaten sind gefordert, jetzt endlich und sehr schnell die Rahmenbedingungen für den Aufbau einer autarken Energieversorgung zu schaffen.Die Regierungen werden jedoch auch mit großen Summen Unterstützung leisten müssen, um die notwendigen Investitionen anzuschieben. Dies wird die Staatshaushalte belasten.In der derzeitigen Abhängigkeit von Europa, vor allem von Deutschland, von Energielieferungen aus Russland steckt weiterhin eine große Unsicherheit für die wirtschaftliche Entwicklung in Europa.

Grundsätzlich kann ich heute die gleichen Hinweise geben wie im Marktausblick des vorigen Monats. Die Stichworte sind:

  • Die Leitzinsen werden angehoben, jedoch vermutlich nicht so stark wie bisher erwartet 
  • Das Wirtschaftswachstum wird sich fortsetzen, jedoch mit geringeren Wachstumsraten
  • Die Energieversorgung wird teuer und ist ein zentrales Problem für Europa
  • Die Aktienmärkte werden sehr schwankungsreich bleiben

Prognosen für die nächsten Monate liegen weit auseinander

Die Prognosen zur Entwicklung der Aktienmärkte bis 2023 und darüber hinaus liegen heute weiter auseinander als ich dies in den letzten 20 Jahren jemals erlebt habe.

Capital Economics (CE) wies am 19. Mai darauf hin, dass der S&P 500 (Index der 500 größten Unternehmen in den USA) am Tag zuvor mit 4 % den größten eintägigen Rückgang seit Juni 2020 hatte. Die enttäuschenden Gewinnergebnisse bei großen Basiskonsumunternehmen, der Rückgang der Renditen bei Anleihen und die Stärke von Save-Haven-Währungen deuten darauf hin, dass die Investoren von einer Wachstumsangst befallen seien.

CE erwartet, dass sinkende Gewinnerwartungen zu einem wachsenden Gegenwind für Aktien werden. CE erwartet auch, dass weitere schlechte Nachrichten über die Weltwirtschft kommen werden.

In Zahlen ausgedrückt: CE prognostiziert, dass der S&P 500 einen Tiefpunkt von 3.750 erreichen wird, mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen vielleicht auch noch etwas tiefer. – (Hinweis: der S&P 500 stand zum Börsenschluss am 19.05. bei ca. 3.900 und am Freitag, den 27.05. bei 4.170.)

Die DWS (Investmentgesellschaft des Deutsche Bank Konzerns) veröffentlichte am 17.05. die Prognose bis Juni 2023. Sie sieht den S&P 500 bis dorthin auf einem Stand von 4.400, den EuroStoxx 50 auf 3.900 und den Dax auf 14.600. Die Inflation in 2022 erwartet die DWS für die USA bei 4,7 %, für die Eurozone und für Deutschland bei 8,0 %. Alle Prognosen der DWS sind mit der Ergänzung versehen, dass sie aufgrund der starken Veränderungen in den Märkten kurzfristig angepasst werden können.

Die Meinungen der Investoren laufen auch weit auseinander

Die Unsicherheit bei den Prognosen trifft natürlich sämtliche Entscheidungsträger gleichermaßen. Der private Anleger mit einem Depot von 100.000 Euro, der Manager eines Fonds mit 10 Milliarden Euro und der spekulativ handelnde Chef eines Hedgefonds: sie alle streben danach, mit ihren Entscheidungen Gewinne zu erwirtschaften. Sie alle treffen Entscheidungen über den Verkauf oder Verkauf von Positionen gemäß ihren Markterwartungen. Alleine an der NYSE (New York Stock Exchange, Börse in den USA) werden täglich Aktien im Gegenwert von mehreren Milliarden USD gehandelt.

Jede einzelne Transaktion, jeder einzelne tatsächlich umgesetzte Verkauf, kommt nur zustande, weil dem Verkaufsauftrag zum gleichen Zeitpunkt und zum genau gleichen Kurs ein Kaufauftrag gegenübersteht. Nur dann wird eine Transaktion tatsächlich ausgeführt! Alleine dieser grundsätzliche Zusammenhang zeigt schon auf, wie unterschiedlich die Erwartungen der Börsianer sind.

Empfehlung

Meine Empfehlung bleibt unverändert gleich:

  • Langfrist-Investoren bleiben weiterhin breit gestreut investiert. Die Weltwirtschaft wird auf Sicht der nächsten fünf bis zehn Jahre weiter wachsen, die Unternehmen werden weiterhin Gewinne erwirtschaften, die Aktienkurse werden – unter Schwankungen – weiterhin steigen.
  • Sehr vorsichtige Langfrist-Investoren können die Schwankungsbreite ihres Gesamt-Investments vorübergehend reduzieren, indem sie einen Teil ihrer Investments für eine gewisse Zeit in Staatsanleihen mit sehr kurzer Restlaufzeit parken. (siehe auch die Veränderungen im Musterportfolio für Tarif LVL70 bei ERGO LIFE mit einer Parkposition von 50 %, hier nachzulesen.) Mit dieser Parkposition kann kein Wertzuwachs erreicht werden. Der einzige Nutzen daraus ist, die Schwankungen für das Gesamtinvestment zu reduzieren. Dies wirkt allerdings in beide Richtungen! Auch ein Anstieg der Aktienkurse wird mit dieser Entscheidung nur zur Hälfte mitgenommen.

Wir treffen uns hier wieder zum nächsten Monatswechsel.

Walter Feil