Seit es Börsen gibt, versuchen Anleger, die Entwicklung der Börsenkurse vorherzusehen. Weltweit studieren Tausende von Analysten die Bilanzen der Unternehmen, führen Gespräche mit den Vorständen, bewerten die Finanzen und das Geschäftsmodell, vergleichen mit dem Wettbewerb und bilden sich damit eine Meinung über die künftigen Chancen des jeweiligen Unternehmens. Das nennt man ”Fundamental-Analyse”. Daraus entsteht ein Bild, wie sich die Gewinne und damit der Wert des Unternehmens in der Zukunft entwickeln werden.

Die Börsenkurse bewegen sich immer mehr im Gleichschritt

Die Börsenkurse entwickeln sich jedoch immer seltener entsprechend den Erwartungen, die die Analyse der fundamentalen Unternehmensdaten erwarten lassen. Immer häufiger laufen die Kurse unterschiedlichster Unternehmen in schönen Gleichschritt aufwärts oder abwärts, ohne die besonderen Chancen und Risiken der einzelnen Unternehmen erkennbar zu würdigen. Das resultiert aus dem Herdentrieb, der auch an den Börsen zu beobachten ist. Dort spricht man dann von einem positiven oder einem negativem Momentum. Alles bewegt sich im Gleichklang, und alleine die Bewegung reißt andere mit, die dann auf den fahrenden Zug aufspringen und mit dabei sein wollen. Millionen von Chart-Jüngern versuchen, die Bewegungen der Börse alleine durch das Studium der Kursentwicklung vorherzusehen. Zweifellos: wenn ein Chart-Guru eine genügende Anzahl Anhänger mobilisieren kann, entsteht dadurch auch eine Bewegung, und die Vorhersage wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Große Investoren mit sehr viel spekulativem Kapital verursachen große Kursveränderungen

Dann spricht Ben Bernanke, der Chef der Fed (amerikanische Notenbank), einige Sätze, aus denen die Marktteilnehmer herauslesen, dass die Fed das gegenwärtige Programm zum monatlichen Ankauf von Anleihen im Gegenwert von ca. 85 Milliarden demnächst zurückfahren könnte. Es dauert nur Sekunden, bis die Börsen – alle Börsen, rings um den Globus – eine Talfahrt beginnen. Aktienkurse fielen um 5 bis 10 %, in den Schwellenländern sogar bis über 15 %, und die Anleihekurse fielen um 4 bis 6 %, in den Schwellenländern bis 12 %. Diese Erfahrung zeigte wieder einmal deutlich, dass die kurzfristige Entwicklung von Aktien- und Anleihekursen mittlerweile extrem davon abhängt, wie viel (billiges) Geld den großen Investoren zur Verfügung steht, die nicht nur eigenes Kapital investieren, sondern darüber hinaus große Summen geliehenes Geld für ihre Spekulationen einsetzen. In diesem Fall reichte schon die Einschätzung, dass die Verfügbarkeit über billiges Geld in den nächsten Monaten eingeschränkt werden könnte, um eine Verkaufswelle in Gang zu setzen.

Die Börsenkurse hängen mehr an der Notenbank-Liquidität als an den fundamentalen Chancen der Unternehmen

Bei anderen Gelegenheiten zeigte sich der umgekehrte Effekt:

  • Als Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, am 26. Juli 2012 in London sagte, die EZB werde den Euro retten, was immer es auch kosten möge, starteten die Börsen zu einer rasanten Rally. („Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.”)
  • Seit die Bank of Japan im September 2012 angekündigt hat, dass sie ihr Kaufprogramm für Anleihen auf umgerechnet rund 780 Milliarden Euro aufstocken wird, haussiert die japanische Börse.
  • Als die Zentralbank in China vor kurzem erstmals und überraschend die gewohnte Liquiditätsversorgung der kleineren Banken einfror, beschleunigte sich der Kursrückgang in China und Hong Kong mit Ausstrahlungen auf ganz Asien.

In unserem derzeitigen Wirtschafts-System reicht es somit nicht mehr, sich ein Bild von den Chancen eines Unternehmens gemäß der Fundamentalanalyse zu verschaffen. Dies mag für die langfristige Entwicklung der Unternehmensgewinne und damit für die langfristige Kursentwicklung hilfreich sein. Auf mittlere Sicht wird der Kurs einer Aktie (und auch einer Anleihe!) auch von dem jeweiligen Trend, dem „Momentum“ beeinflusst: Computer handeln vollautomatisch in Millisekunden und Investoren laufen der Masse nach, was jeden Trend verstärkt. Kurzfristig werden die Kurse – von jedem Fundamentalergebnis unbeeinflusst – von der jeweils verfügbaren Liquidität im Markt getrieben. Ein Aktienkurs kann nur steigen, wenn mehr Käufer als Verkäufer am Marktplatz erscheinen – und ein Aktienkurs fällt, wenn viele verkaufen wollen, jedoch nur wenige Käufer erscheinen.

Merke:
Zum Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles.  
(frei zitiert nach Goethe)

 

Walter Feil