Auch wer nur ab und zu eine Wirtschaftszeitung zur Hand nimmt, weiß mittlerweile, dass das Wirtschaftswachstum in China zurückgeht. Die Zentralregierung bremst das in den letzten Jahren zu stark angeschwollene Kreditvolumen. Dies führt, wie stets zutreffend beschrieben wird, zu einem „Rückgang der Investitionen“ und damit, wie wir richtig schlussfolgern, auch zu einem „Rückgang des Wirtschaftswachstums“.

Über allem steht die Absicht, die Zusammensetzung des Bruttosozialproduktes zu ändern. Künftig sollen mehr Dienstleistungen und Konsum und weniger (kreditfinanzierte) Investitionen die Triebfeder des weiteren Wachstums sein. Diese Umstellung soll in einem fließenden Prozess über Jahre erfolgen. Auch diese Veränderung wird nicht ohne einen „Rückgang des Wirtschaftswachstums“ vonstatten gehen.

Unsere Gewohnheit, Wachstumszahlen stets mit Bezug auf einen früheren Vergleichszeitraum darzustellen, könnte den Eindruck erwecken, dass die Entwicklung in China sehr negativ ist. Lesen wir die Berichte jedoch genau, stellen wir fest:

  • Die Wirtschaftsleistung in China nimmt weiterhin um über 7 % jährlich zu. Das ist – ganz richtig – ein „Rückgang“ gegenüber den von früheren Jahren gewohnten Wachstumszahlen, die in teilweise bei über 12 % jährlich lagen. Tatsache ist jedoch, dass das Wachstum weiterhin positiv ist und mit einem Tempo vorangeht, von dem europäische Staaten (auch Deutschland!) weit entfernt sind.
  • Das absolute Bruttoinlandsprodukt in China liegt bei rund neun Billionen USD jährlich. Das ist zweieinhalb Mal so viel wie in Deutschland – und es wächst weiter, eben mit den benannten etwa 7 % jährlich, auch wenn sich das Tempo des Wachstums „relativ“ zu früher reduziert.
  • Die jährliche Wirtschaftsleistung in China in absoluten Zahlen nimmt weiterhin rasant zu. 2009 waren es etwa fünf Billionen USD, 2010 sechs Billionen, 2011 bereits über sieben Billionen, 2012 schon über acht Billionen, 2013 über neun Billionen und für 2014 erwartet man 10 Billionen.

Unsere Gewohnheit, Wachstumszahlen stets als prozentuale Veränderung im Verhältnis zu früheren Zahlen darzustellen, könnte da leicht zu einer falschen Einschätzung führen. Richtig ist, dass die prozentuale Steigerung heute geringer ist als in früheren Jahren. Die absoluten Ergebnisse nehmen jedoch Jahr für Jahr weiter zu.

 

Die jährliche Wirtschaftsleistung in China wächst in absoluten Zahlen weiter von Jahr zu Jahr. - Grafik: Flossbach von Storch auf Basis von Daten von Thomson Reuters

Die jährliche Wirtschaftsleistung in China wächst in absoluten Zahlen weiter von Jahr zu Jahr. – Grafik: Flossbach von Storch auf Basis von Daten von Thomson Reuters

Dies hat auch positive Auswirkungen auf die deutsche Exportwirtschaft. Im Jahr 2000 exportierte Deutschland noch für weniger als eine Milliarde Euro monatlich nach China. 2010 waren es schon viereinhalb Milliarden monatlich. Seit 2012 liegt der Durchschnitt der monatlichen Exporte von Deutschland nach China bei sechs Milliarden Euro. Auch hier könnte man – getreu unserer gewohnten Betrachtungsweise – formulieren: „Exporte nach China stagnieren – Wachstum 2013 nahe Null Prozent nach 21 % im Jahr 2011“. Deutsche Unternehmen verkaufen jedoch weiterhin Monat für Monat Waren und Dienstleistungen nach China im Gegenwert von sechs Milliarden Euro.

Wie bereits geringe Veränderungen des Wirtschaftswachstums große Auswirkungen auf die Entwicklung der Aktienkurse haben, zeigt die folgende Grafik. Die blaue Linie zeigt den Shanghai SE Composite Index, der alle Aktien, die an der Shanghai Stock Exchange gehandelt werden, umfasst. Die blaue Linie zeigt die Geldmenge M2 (Bargeldumlauf und Sichteinlagen bis zu zwei Jahren Laufzeit). Die blauen Säulen darunter zeigen das Wachstum der Wirtschaft in China jeweils im Verhältnis zum gleichen Zeitraum im Vorjahr. Im Jahr 2009 schob die Zentralregierung die Investitionen durch eine Erhöhung der Geldmenge an. Das Wachstumstempo erhöhte sich von Quartal zu Quartal – jeweils bezogen auf den gleichen Zeitraum im Vorjahr. Die Aktienkurse (blaue Linie), die im wesentlichen die Erwartungen der Aktien-Investoren für die nächste Zukunft wiederspiegeln, explodierten förmlich.

Wirtschaftswachstum in China 2008 bis 2014

Wirtschaftswachstum in China 2008 bis 2014

In 2011 reduzierte sich das Wachstumstempo in China wieder. Die Aktienkurse sanken. Im ersten Quartal 2014 reduzierte sich die Wachstumsquote (blaue Säulen) erneut, allerdings sehr geringfügig.  Wer nur die stark zusammenfassenden Überschriften in den Medien liest, könnte leicht übersehen, dass die Wirtschaftsleistung weiterhin mit über 7 % zunimmt. Das ist kein „Rückgang“, sondern eine weitere Steigerung der wirtschaftlichen Leistung – mit jetzt etwas langsamerem Tempo. Auch die Überschrift der obigen Grafik („… strong evidence that an economic slowdown has begun“ – … weist deutlich darauf hin, dass ein wirtschaftlicher Rückgang begonnen hat“) hinterlässt beim flüchtigen Lesen einen sehr negativen Eindruck.

Die Kurse der im Shanghai SE Composite Index zusammengefassten Aktien sanken die letzten Quartale und spiegeln damit die Enttäuschung der Anleger über das „zurückgehende Wachstum“ und deren weniger positiven Erwartungen für die Zukunft wieder. Diese niedrige Bewertung öffnet neue Chancen für eine Investition zu gedrückten Kursen. Erfahrene Anleger achten mehr auf die absolute Stärke des Wirtschaftswachstums und beobachten die weitere Entwicklung aufmerksam auf der Suche nach einem möglichst günstigen Zeitpunkt zur Aufstockung ihrer Investitionen.

Walter Feil
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